
Kerstin Radde-Antweiler zur gesellschaftspolitischen Relevanz von Videospielen
19. August 2025
ZeMKI-Mitglied Prof. Dr. Kerstin Radde-Antweiler ist Expertin für Digital Gaming im Kontext kultureller und religiöser Kommunikation. Sie erforscht Games als „Gamevironments“ – Räume, in denen Sinnstiftung, Identität und religiöse Narrative ausgehandelt werden. Als Mit-Herausgeberin des Fachjournals gamevironments und durch internationale Kooperationen bringt sie ihre Expertise regelmäßig in Debatten zu Religion, Nachhaltigkeit und gesellschaftlicher Bedeutung digitaler Spiele ein. Anlässlich der Gamescom-Messe in Köln erklärt Kerstin Radde-Antweiler, warum Videospiele überhaupt so relevant sind, was sie mit Werten zu tun haben und Was sie aktiv zu gesellschaftlichen Wertedebatten beitragen können.
Warum sind Video Games überhaupt relevant?
Die ökonomische und wirtschaftliche Bedeutung des Video Games-Sektors wird in den letzten Jahren immer deutlicher. So wurden 2022 weltweit mehr als 335 Milliarden Euro allein für den Verkauf von Videospielen ausgegeben (Statista 2024), nicht mitgezählt sind die Gelder für die dazugehörigen Franchises, TV-Serien und Werbeeinnahmen auf YouTube. Ein Blick auf die weltweiten Umsätze mit digitalen Medien zeigt dabei einen bemerkenswerten Trend: Das Spielesegment macht inzwischen etwa die Hälfte der Gesamteinnahmen aus, wobei sein Marktanteil weiter wächst (game 2024). Außerdem wird geschätzt, dass die Einnahmen aus Videospielen bis 2027 um mehr als 12 % steigen werden. Aber nicht nur im Hinblick auf die finanziellen Ressourcen sind Videospiele ein wesentlicher Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens. Betrachtet man zum Beispiel die Altersverteilung der Videospieler in Deutschland im Jahr 2024, so wird deutlich, dass sich die Zahlen sehr gleichmäßig auf die verschiedenen Altersgruppen verteilen (Statista 2024). Es ist nicht nur die jüngere Generation, sondern der höchste Anteil (18%) der Spieler:innen sind Personen zwischen 50 und 59 Jahren, dicht gefolgt von Personen zwischen 30 und 39 Jahren (17%) und Personen zwischen 10 und 19 Jahren (16%). Und 12 Prozent aller Spieler:innen in Deutschland sind zwischen 60 und 69 Jahre alt! Es zeigt sich daher, dass Video Games kein Nischenphänomen mehr sind, sondern etablierter Teil der Gesellschaft. Demgegenüber werden Video Games im Mediendiskurs und aber auch im Forschungsdiskurs zumeist negativ belegt und/oder als unwichtig ausgegrenzt. Die gesellschaftliche und kulturelle Tragweite von Video Games wird dabei weiterhin verkannt oder auf ihre finanzielle Bedeutung reduziert.
Gucken wir uns allerdings die Bedeutung und Rolle von Video Games in aktuellen Diskursen an, wird schnell deutlich, dass sie einen großen Einfluss auf Geselsschaft und Kultur haben. Ein Beispiel dafür sind die US-Wahlkämpfe. Da Video Games Bedeutung zu transportieren werden sie zur Überzeugung bestimmter Zielgruppen in bestimmten Situationen eingesetzt. Es verwundert daher nicht, dass Video Games längst Teil politischer Marketingstrategen geworden sind, die digitale Spiele als innovatives Instrument einsetzen, um junge Menschen mit Erfolg an Politiker:innen heranzuführen. So wurde beispielsweise Fortnite bei den US-Präsidentschaftswahlen 2020 von den Demokraten für die sog. Biden-Harris-Kampagne genutzt. Diese bestand aus einer eigenen Karte im Spiel – die Insel Build Back Better With Biden-Insel – und wurde wenige Tage vor den US-Präsidentschaftswahlen, gestartet.
Spieler:innen konnten sechs Herausforderungen im Zusammenhang mit der politischen Agenda von Biden-Harris bewältigen. Ziel der Kampagne war es, Spieler auf substanzielle, ansprechende und unterhaltsame Weise einzubinden, um Wähler zu erreichen und zu mobilisieren (Foreman 2020). Ähnliche Prozesse lassen sich auch in anderen Ländern beobachten. So hat beispielsweise Russland in letzter Zeit seine Bemühungen im Bereich der Videospiele verstärkt: 2019 wies Putin die Regierung an, eine Nichtregierungsorganisation (NRO) zu benennen, die die Erstellung von Online-Inhalten mit Schwerpunkt auf der moralischen und geistigen Entwicklung der Jugend beaufsichtigen solle. Das Russian Internet Development Institute stellte daraufhin im Dezember 2021 seine Initiative vor, russische Videospiele zu finanzieren, die sich an den sogenannten russischen kulturellen Werten und der Mentalität orientieren.
Was haben Video Games mit Werten zu tun?
Obwohl es sich um eine dominante Form der populären Medien handelt, geht die Betrachtung von Ethik oder Moral in Videospielen bisweilen nicht über oberflächliche Darstellungen hinaus, die das Spielen bestenfalls als frivole Unterhaltung und schlimmstenfalls als Auslöser für Suchtverhalten oder jugendliche Selbstmord-Attentate darstellen. Eine genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass die Spieler:innen beim Spielen zu ethischen Akteuren werden und dass die Ethik des Spielens als ein komplexes Netzwerk von Verantwortlichkeiten und moralischen Pflichten betrachtet werden sollte, die Teil einer größeren Spielumgebung sind. Spieler:innen sind nicht passiv oder amoralisch, sondern reflektieren und schaffen ethische Positionen, die dann im Spiel der Wertebildung betrachtet werden können. Dabei sind Spielregeln, die Spieleerzählungen, das Spieldesign sowie das Spielen als solches eng mit Entscheidungsprozessen und mit spezifischen Werten verbunden, die den Entscheidungen der Spieler:innen Bedeutung verleihen. Werte sind dabei Diskurse und Praktiken, die von Akteur:innen je nach Zeit, Kontext und Fähigkeiten ständig (neu) definiert und (neu) verhandelt werden.
Werte lassen sich im Bereich von Video Games auf mehreren Ebenen finden: zum einen entstehen Video Games nicht in einem luftleeren Raum, sondern werden in spezifischen zeitlichen und gesellschaftlichen Zeiten produziert und konsumiert. Damit spiegeln Video Games auch Werte konkreter gesellschaftlicher und kultureller Kontexte wider. Ein gutes Beispiel dafür sind die verschiedenen Darstellungen von Feinden in Video Games zu unterschiedlichen Zeitpunkten. So zeigen Ego-Shooter wie die Call of Duty-Reihe oder Medal of Honor-Reihe klassische Stereotypisierungen wie Terroristen aus dem Nahen Osten, russische Ultranationalisten, Nazis oder lateinamerikanischen Straßenbanden, die alle primär die Funktion haben, den Spieler:innen ein Gegenüber zu bieten, das die Gewalt des Spielers legitimiert.
Abhängig von spezifischen Weltgeschehen zeigen sich vermehrt Verwendungen spezifischer Menschengruppen – nach 9/11 beispielsweise verstärkt muslimische männliche Terroristen ähnlich wie auch in anderen popkulturellen Formaten. Es lassen sich dabei wechselseitige Verknüpfungen von sozialen Kategorisierungen wie Religion, Rasse, Klasse und Gender erkennen. Umgekehrt zeigen aber auch Spiele wie Kingdom Come: Deliverance 2, dass im Gegensatz zu älteren Spiele gleichgeschlechtliche Partnerschaften und Beziehungen als akzeptierter gesellschaftlicher Teil der Norm von Spieleentwickler:innen dargestellt werden. Zum anderen ergeben sich aber auch innerhalb des Spielens selbst Werte-Darstellungen der Spieler:innen und Diskussionen über diese. So kam es beispielsweise beim bereits erwähnten Spiel Kingdom Come: Deliverance 2 zu großer Kritik von eher wertekonservativen Spieler:innen, die das Vorgängerspiel gerade für seine fehlende Vielfalt gelobt haben. In Bezug auf Wertevorstellungen zeigt sich, dass hier bestimmte Wertevorstellungen des Spiels und von einigen (konservativen) Spieler:innen aufeinandertreffen und als nicht vereinbar diskutiert werden.
Interessant ist das Beispiel auch, da das Spiel eine dritte Ebene mitdiskutiert, nämlich die Wertevorstellungen des Games-Settings, die des frühen 15. Jahrhunderts. So haben die Entscheidungen der Spieler:innen Auswirkungen auf die Spielewelt als solche – z.B. Reaktionen der Dorfbewohner:innen auf den Spielecharakter bei bestimmten zu dieser Zeit nicht dem Wertekanon entsprechenden Handlungen. Eine letzte Ebene von Werten finden sich verstärkt in sogenannten Serious Games, d.h. Video Games, die mit spielerischen Elemente pädagogische Inhalte vermitteln möchten. Hier steht die Vermittlung spezifischer Werte im Vordergrund. Ein Beispiel dafür sind Spiele, die zu einer Auseinandersetzung mit historischen Themen wie die NS-Zeit, aber zu rezenten Themen wie Antisemitismus und Verschwörungstheorien anregen wollen.
Was können Video Games aktiv zu gesellschaftlichen Wertedebatten beitragen?
In jüngerer Zeit rückt das Potenzial digitaler Spiele zur Förderung gesellschaftlicher Wertedebatten in den Fokus auch von Spieleentwickler:innen. Ein Beispiel dafür ist das Klimabewusstsein. Der Klimawandel ist seit Anfang der 2000er Jahre ein wichtiges Thema in Video Games, doch die quantitative und qualitative Durchdringung des Themas hat zugenommen. So sind sie heute Teil von sogenannten Indie-Spielen wie Plasticity, einem kostenlosen einstündigen Spiel, das von Studenten entwickelt wurde und in der Zukunft spielt, in der „der Plastikkonsum nie aufgehört hat und leblose Landstriche, überflutete Städte und weit verbreiteten Müll hinterlässt…“ Aber auch AAA-Spiele wie Sid Meyers Civilization VI Gathering Storm von 2019 reflektiert das Thema und gibt den Spieler:innen als Spieleanleitung zu bedenken: „Die Entscheidungen, die Sie während des Spiels treffen, beeinflussen das Ökosystem der Welt und können sich auf die Zukunft des gesamten Planeten auswirken.
Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Stürme und Vulkanausbrüche können deine Modernisierungen und Distrikte plündern oder zerstören – aber sie können auch das Land erneuern und bereichern.“ Ein weiteres prominentes Beispiel für die Integration der Erzählung vom Klimawandel oder besser von der Klimakatastrophe ist Floodland aus dem Jahr 2022, in dem die Welt zerstört ist und der steigende Meeresspiegel die Küstengebiete überflutet hat. Die Spieler:innen stehen dabei vor der Aufgabe, der Menschheit beim Überleben dieser Katastrophe zu helfen, indem eine Gruppe von Überlebenden auf den Weg der Rettung geführt wird. Ressourcen müssen gesammelt, vergessene Technologien wiederentdeckt und der Frieden zwischen rivalisierenden Gruppen gewahrt werden, während der Wiederaufbau der Zivilisation vorangetrieben wird. Und auch Spiele wie Minecraft haben Spiele zu diesem Thema integriert, z. B. „Build a better world“ in der Minecraft Education Edition. Die Bedeutung dieses Themas in der Spielebranche wird aber auch auf Ebene der Spieleentwickler:innen deutlich. Dies zeigt sich etwa bei der Initiative Playing for the Planet, einem Zusammenschluss zur Unterstützung der Videospielbranche bei der Minimierung ihrer Umweltauswirkungen. Die beteiligten Spielestudios und Branchenorganisationen haben sich mit ihrem Beitritt zu spezifischen und messbaren Maßnahmen verpflichtet, die von der Verringerung der Treibhausgasemissionen über die Integration nachhaltiger Spielinhalte bis zur Unterstützung weltweiter Umweltinitiativen reichen. Mehr als 20 Unternehmen gehören diesem vom UN-Umweltprogramm (UNEP) unterstützten Bündnis an.
Die Forschung hat dafür ein neues Spielgenre identifiziert: die sogenannten environmental games (auf deutsch: Umweltspiele). Bei diesen Spielen verändern die Spielerinnen und Spieler durch ihr Handeln die virtuelle Umgebung und beeinflussen so die Spielbedingungen. Diese Spiele sind bewusst so entwickelt, dass sie das Umweltbewusstsein fördern – durch ihre Gestaltung, ihre Spielmechaniken und ihre Optik. Diese Video Games nutzen vor allem die natürliche Neugier, Kreativität und den Wissensdurst der Spielenden als Antrieb. Dadurch können sie zu Veränderungen anregen und helfen, eine stärkere Verbindung zur Natur aufzubauen. Spiele haben generell die Macht, unser Verhalten positiv zu beeinflussen, da sie unser Unterbewusstsein erreichen und so unsere Gewohnheiten prägen können. Es ist bislang jedoch noch nicht hinreichend untersucht, wie diese Video Games zu einem aktivem und längerfristigen Engagement und dem Eintreten für Umweltschutz führen können. Aktuelle Diskussionen beschäftigen sich mit der Frage, welche Rolle Videospiele für die Entwicklung von Zukunftskompetenz spielen können. Dieses Konzept wurde von der UNESCO entwickelt und soll Menschen dabei helfen, Strategien für den Umgang mit einer ungewissen Zukunft zu entwickeln – besonders angesichts des Klimawandels. Zukunftskompetenz bedeutet, besser zu verstehen, wie die Zukunft unser heutiges Handeln und Denken beeinflusst. Diese Fähigkeit kann dabei helfen, Politik und Systeme zu entwickeln, die Krisen standhalten und langfristige Widerstandsfähigkeit aufbauen. Wer verschiedene Zukunftsszenarien vorausdenkt, kann sich sowohl auf wahrscheinliche Entwicklungen vorbereiten als auch auf wünschenswerte Zukünfte hinarbeiten. In beiden Fällen geht es darum, die Gegenwart bewusst zu gestalten. Zukunftskompetenz umfasst aber auch die Fähigkeit, spontan und flexibel auf unvorhergesehene Ereignisse zu reagieren und so mit den Unsicherheiten umzugehen, die die Zukunft mit sich bringt. In Bezug auf Video Games stellt sich nun die Frage, wie Spiele dazu beitragen können, Menschen zu befähigen, sich antizipierend, proaktiv und spontan-reaktiv mit der Zukunft auseinanderzusetzen?