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Ich habe eine Freundin mit einer medizinischen Akte, die so dick ist wie das Shorter Oxford English Dictionary, voll mit Laborberichten und Bildern ihres Körpers, die mit verschiedenen Technologien aufgenommen wurden, sowie mit gekritzelten Diagnosenotizen von zahlreichen Ärzten, die sie aufgesucht hat. Der Inhalt der Akte findet seinen Weg zu dem Arzt, den sie gleich aufsuchen wird. Doch zunächst müssen eine Reihe von Formularen ausgefüllt werden, darunter auch solche, die der Identifizierung dienen und sie in der sozioökonomischen Welt verorten: eine Mobiltelefonnummer, eine Adresse, Arbeitsstelle, Versicherung und Angaben zu den nächsten Angehörigen. Dann geht sie in einen Vorraum, wo ein junger Sanitäter einige Minuten lang eine kurze Anamnese erhebt. Die Sanitäterin macht sich Notizen, aber nur selektiv, und sucht nach spezifischen Details, die sich (ihrer Meinung nach) auf den „Zweck des Besuchs“ beziehen, eine einzeilige Beschreibung oder Frage, die den Patienten in diese Klinik führt. Dieser Zettel wird oben in die Akte eingefügt und dem Arzt vor der eigentlichen Interaktion zugesandt. Und so beginnt sie, die klinische Begegnung. Ein paar Minuten Stille, während die Ärztin die Akte durchblättert, die sie schon viele Male zuvor durchgeblättert hat, während ihr Geist zwischen dem Patienten, der vor ihr steht, und der Datenwolke, auf die sie zurückgreift, hin und her arbeitet, um diese Besonderheit zu verstehen, zu lokalisieren und zu projizieren.

Da meine Freundin mit einem Problem, das sich einer einfachen Kategorisierung entzieht, durch mehrere Medizinsysteme gereist ist, ist sie sich der geistigen Maschinerie, die in Gang gesetzt wird, wenn sie die Klinik betritt, nur allzu bewusst.Sie nimmt auch die Zahlen und Begriffe wahr, die diese Maschinerie antreiben, ihre Prozesse informieren und ihre Produkte bestimmen.„Jedes medizinische System scheint anders über Daten zu denken und sie anders aufzuschlüsseln“, sagt sie.Im Laufe der Zeit hat sie sich das Vokabular und die Grammatik angeeignet, um ihre Erzählung innerhalb der Datenkultur einer bestimmten Klinik zu gestalten und sich auf eine Weise zu produzieren, die für diese erkennbar ist.
Wie Lisa Gitelman und Virginia Jackson (2013) so treffend formulieren, sind Daten der Ausgangspunkt dafür, „was wir wissen, wer wir sind und wie wir kommunizieren“. In der Klinik von heute bestimmen Daten das Verständnis und die Praxis der Gesundheitsversorgung.

In diesem Beitrag vertrete ich die Auffassung, dass die Dominanz von Daten in all ihren vielfältigen Formen eine neue Dynamik schafft, die die klinische Praxis auf verschiedenen Ebenen moderiert und verändert, die Dynamik der Beziehungen zwischen Patient und Anbieter verschiebt, neue Formen der Ungleichheit hervorbringt und daher neue Formen des Bewusstseins und der Befähigung sowie möglicherweise auch neue Sensibilitäten für die Praxis der Gesundheitsversorgung erfordert. Die übermäßige Betonung des aggregierten medizinischen Wissens – das in den großen Datenbeständen, die die Evidenzbasis bilden, enthalten ist – in Verbindung mit der Abhängigkeit von diagnostischen Messungen hat Vorrang vor der Erfahrung, dem Intuitiven, dem Spezifischen und dem Kontextuellen.Tatsächlich wird dadurch der Fokus vom verkörperten Patienten weggenommen, der dann den klinischen Blick zurückerobern und ihn – mit der entsprechenden datengestützten Artikulation – auf sich selbst lenken muss.Ruckenstein und Schull fordern Wissenschaftler dazu auf, zu untersuchen, wie sich Datafizierung „über verschiedene digitale Grenzen hinweg (finanziell, technologisch, geografisch) entfaltet“ (2017, S. 261); dieser Beitrag plädiert für genau eine solche Untersuchung in anderen Kontexten als dem Globalen Norden, wo die meisten Studien zur Datafizierung angesiedelt sind. Er konzentriert sich auch auf jenen Aspekt der medizinischen Begegnung, bei dem Daten zu einem Schleier werden können, der die Gegenwart verdunkelt und abwertet, selbst wenn ihr Zweck darin besteht, zu klären und zu erklären.

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Über die Autorin

Usha Raman
Usha Raman ist Professorin am Department of Communication der Universität Hyderabad, Indien. Im Jahr 2019 war sie ZeMKI Visiting Research Fellow am Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung (ZeMKI) an der Universität Bremen. Bevor sie 2010 in die Wissenschaft eintrat, arbeitete sie mehr als drei Jahrzehnte lang als freie Journalistin und Gesundheitskommunikatorin und veröffentlichte in einer Reihe von Mainstream-Zeitungen und -Magazinen zu Themen aus den Bereichen Gesundheit, Technologie und Frauenfragen. Sie schreibt eine Kolumne für eine der größten indischen Tageszeitungen, The Hindu, und ist Herausgeberin des Monatsmagazins Teacher Plus, das sich an Lehrkräfte richtet. Usha promovierte 1996 in Massenkommunikation an der University of Georgia, Athens, Georgia, USA. Zu ihren Forschungsinteressen gehören die Kulturwissenschaft, die Gesundheitskommunikation, die feministische Medienwissenschaft und die sozialen und kulturellen Auswirkungen der digitalen Medien. An der Universität bietet sie Kurse zu grundlegenden und fortgeschrittenen Schreibkursen, digitalen Medien und Cyber-Kultur sowie Gesundheitskommunikation an.
Sie hat auch an einer Reihe von Beratungsprojekten zur Gesundheitsförderung und zur Kommunikation von Verhaltensänderungen für das Indian Institute of Public Health (Hydera- bad), UNICEF (Indien) und das George Institute for Global Health (Indien) gearbeitet. Im Herbst 2016 war Usha Fulbright-Fakultätsstipendiatin am MIT-Programm Comparative Media Studies/Writing, wo sie eng mit dem Centre for Civic Media zusammenarbeitete. Im April 2013 erhielt sie einen International Research Collab- oration Award von der University of Sydney.